Was uns droht und: fehlt


Theater ohne Publikum? Quatsch – oder? Aber wir hatten das mal auf den Spielplan genommen, vor vielen, vielen Jahren. „Theater ohne Publikum“. Der Abend begann pünktlich, wie immer. Jede und jeder im Ensemble der privaten Profi-Bühne durfte spielen, was er oder sie wollte, musste niemanden (auch nicht den Theaterleiter) vorweg darüber ins Bild setzen, was geboten werden sollte. Die Reihenfolge der Auftritte kam spontan zustande. Und im Parkett des keinen Zimmertheaters, einem ehemaligen Ladenlokal einer innerstädtischen Einkaufsstraße, kein Publikum. Aber doch Menschen. Die hatten keinen Eintritt gezahlt und durften demzufolge auch nicht mucken, wenn ihnen was nicht gefiel. Die freiwillige Hut-Spende berechtigte zu nichts, entpflichtete andererseits vom Applaudieren. Reaktionen waren allenfalls von draußen zu hören, wo sich vor zwei in die geschwärzten Schaufenster geschnittenen Gucklöchern von den Presse-Ankündigungen verlockte Zaungäste drängten.

Die Bühne ist praktisch leer. Ein paar Reste des am 14. März gestoppten Stücks stehen noch rum.

Derzeit ist in allen Theater in Deutschland das Stück auf dem Programm allerdings radikaler als bei uns damals. Da können die BühnenkünstlerInnen spielen, was sie wollen. Ihnen darf niemand zugucken, nicht mit Hutspende und nicht ohne. Die Darsteller*innen können allenfalls auf die Bühne gehen und etwas vorspielen, was dann auf einem elektronischen Wege direkt übertragen wird oder nach einer Aufzeichnung als permanent wieder abspielbarer clip das Licht der Welt erblickt. Sie können aber auch im home-office produzieren und das „Produkt“ verschenken.

DAS allerdings ist aus meiner Sicht noch größerer Quatsch als unser happening in den 80er Jahren. Dazu hieß es unlängst in einem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (17. März 2020) über Live-Streams in der Klassik:

„Der Ersatz ist leider ein Requiem.“

Und dann schreibt Reinhard J. Brembeck unter anderem: „In bester Absicht sollen Internet-Übertragungen klassische Konzerte ersetzen. Warum aber machen sie nicht glücklich wie der Besuch eines realen Musikereignisses?“

Diese Frage kann man auch stellen in Bezug auf Mitschnitte von Sprechtheater-Aufführungen und erst recht im Zusammenhang mit „Geister-Spielen“ in Wohn-Küchen und Keller-„Studios“ von Theaterleuten.

Ich behaupte ja schon lange: „Das Gelingen eines Theaterabends hängt zu 50 Prozent vom Publikum ab. Wenn es den Besucherinnen und Besuchern mal nicht sooo gut gefallen hat, sind sie zur Hälfte selbst schuld.“

Brembeck: „Zudem sind Anspruch, Aufmerksamkeit und Verhaltenskodex bei einem Live-Fake-Ereignis andere als bei einem Live-Konzert. Im Saal ist der Hörer an seinen Platz gefesselt und dem Tun der Musiker ausgeliefert. Es wäre extrem unhöflich und kommt kaum vor, dass jemand während einer Aufführung protestierend aufspringt und geht. Nur wegdämmern wird akzeptiert. Von anderen unbeobachtet hingegen hat der Hörer schon ganz andere Möglichkeiten: laut schreiend gegen Langeweile und Missdeutungen aufbegehren, aus dem Zimmer rennen, den Ton oder die ganze Übertragung abschalten. Und wer den ganzen Tag im Homeoffice vor dem Computer verbracht hat, der hat derzeit, das wird sich in den nächsten Wochen und Monaten noch verschärfen, nicht mehr viel Lust, sich solch ein Event wieder vor dem Bildschirm anzutun.“

Auf jeden Fall ist, wer Theater live anschaut, freier als Mitschnittgucker. Beim Schauen von Bildschirmproduktionen entscheiden der Regisseur(in), Kameraleute und cutter, was Du zu gucken hast. Wechselnde Perspektiven, Großaufnahmen von Gesichtern, Szene-Ausschnitte, Figuren-Priorisieren – all‘ das hast Du nicht, wenn Du im Parkett sitzt. Da bist Du selbst Regie, cutter, Kameramensch. Da entscheidest Du zum Beispiel, ob Du den ansiehst, der gerade agiert, oder den, der reagiert.

Und zum Theatermachen generell: In einer Zeit, da allenthalben, global ordnende Normen- und Regelsysteme auseinanderbrechen, müssen nicht nur wir, aber auch wir Theaterleute reflektieren und daran arbeiten, den Folgen zu begegnen. Da verlangt, zuerst wohl noch unbewusst, das Publikum künstlerische Angebote. Und die Kunst braucht dann das Publikum als Dialogpartner. Wir haben (wieder) nach (neuen) Wegen zu suchen, wie wir den Alltagsproblemen und den gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen – und hier trifft der vielleicht schon abgelutschte Begriff mal wieder – „soziokulturell“ zu Leibe rücken.

Nach meiner Auffassung ist Theater an sich „soziokulturell“. Schon immer gewesen. Und gerade in unserer Region, in Ulm und Ulmgebung, war der Gedanke „Das Publikum ist ein Mitspieler“ äußerst virulent. Einiges davon ahnt man, wenn man Hans Daiber liest „Deutsches Theater seit 1945“ (Stuttgart, Philipp Reclam jun., 1976. Paperback ISBN: 3150102596). Die einschlägigen Seiten beginnt Daiber so:

„Im November 1962 machte Paul Pörtner den ersten Versuch, das Publikum mitspielen zu lassen. ‚Mitspiel‘ ist ein Ausdruck von Claus Bremer nach einer Idee von Seilner, dessen Dramaturg er 1952 bis 1961 gewesen ist: Man solle Autoren anregen, Stücke zu schreiben, deren Ablauf nicht festgelegt ist. In Ulm, wo Bremer inzwischen Dramaturg war, kam es zum ersten abendfüllenden Mitspiel: Scherenschnitt.

Das Stück ist international inzwischen ein Erfolg. Beweis: Es wurde inzwischen in 28 Ländern aufgeführt. Unter dem Titel „Dernier Coup de Ciseaux“ läuft „Scherenschnitt“ in Paris im Théâtre des Mathurins, seit neun Spielzeiten in mehr als zweitausend Aufführungen. Und in Athen, so berichtet uns der Kellner in unserem griechischen Stammlokal, ist „Scherenschnitt“ das, was London die berühmte „Mausefalle“ ist.

Was sich danach in Ulm tut, und da tut sich höchst Außergewöhnliches, schildert Daiber hier.

Bei vielen dieser außergewöhnlichen events, die etliches Epigonales evozierten, war ich dabei.

Der Verlag Hartmann & Stauffacher, der die Aufführungsrechte für „Scherenschnitt“ hat, fordert auf seiner homepage zu „Scherenschnitt“: „Eines aber müssen alle Mitwirkenden – vom Regisseur bis zu den Darstellern – mitbringen: eine tolle Liebe zum Theaterspielen. Der Inhalt ist jeden Abend anders. Die Macher haben es in der Hand, ob mehr gelacht, mehr wie im Kabarett kritisiert, oder mehr geweint wird.“

Wo das Stück aufgeführt wurde und wird, sind die Vorbedingungen wohl erfüllt.

Als es erfunden wurde, schien in Deutschland eine Krise des Theaters akut zu sein. Das lässt sich jedenfalls herauslesen aus einem größeren Riemen der ZEIT (21. April 1961). Da schrieb Otto F. Beer unter dem Titel

„Das entmachtete Publikum. Der Spielplan der Theater ist nicht mehr seine Sache“

unter anderem: „In unserem Nachkriegstheater ist ein entscheidender Wandel eingetreten, dem wir zu wenig Beachtung schenken: der Abdankung des Publikums als regierender Macht. All die vielen tiefschürfenden Betrachtungen, mit denen wir sonst selbst sehr bescheidene dramaturgische oder strukturelle Veränderungen zu bedenken lieben, gehen an der Tatsache vorbei, dass in unserem Theater der Besucher keine den Spielplan bestimmende Kraft mehr darstellt. Ihm wird zugeteilt: Er darf äußerstenfalls entscheiden, ob er sich lieber in diesem oder jenem Haus etwas zuteilen lassen möchte, aber eine Entscheidung über die Art der ihm zugedachten Kunstgenüsse steht ihm längst nicht mehr zu.“

Beer schließt den umfangreichen Artikel: „Täuschen wir uns nicht: Wir stehen vor einer kulturellen Fassade, hinter der nicht mehr viel steckt. Es nützt nichts, einander Lorbeerkränze, Kulturpreise und öffentliche Auszeichnungen zuzuschanzen, in tiefschürfenden Untersuchungen den Wagemut zu rühmen und auch sonst jede Art von ungedeckten Schecks sowohl auszustellen wie einzulösen. Dieses ganze kunstvolle Gebäude unseres Theaterlebens kann über Nacht zusammenstürzen, wenn es das Publikum aus der Funktion verdrängt, die diesem kein noch so offizieller Würdenträger abnehmen kann. Der erste kühle Hauch einer Rezession, ja eine stärkere Beanspruchung öffentlicher Mittel für andere Zwecke würde die Fadenscheinigkeit unseres Theaterbetriebes grausam offenbaren.Aber selbst ohne solche Schreckgespenster von morgen ist die Situation gefährlich genug. Publikum ist mehr als ein Geldbringer. Es ist eine gestaltende Kraft, ohne die lebendiges Theater, trotz aller literarischer Beschönigung, niemals ein kräftiges, eigenständiges Leben entfalten kann.“

Man muss nicht alles unterschreiben, was Beer so verfasst hatte, damals, 1961. Aber:

Jetzt dürfte mindestens mal klar sein, was uns derzeit droht und fehlt.

· Es droht der kühle Hauch einer Rezession.
· Es fehlt das Publikum, die gestaltende Kraft.

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