„Eh ich’s vergesse…“ Memoiren eines Nobody (Fragment 12)


Es ist schon so lange her. Inzwischen haben sich längst die Grenzen verwischt zwischen erinnertem Realen und dem zusammengereimten Erfundenen. Es geht um das Ende der 70er Jahre im vorigen Jahrhundert. Ich hatte die fixe Idee, Drehbücher zu schreiben. „Das Haus mit der Nummer 30“ hatte es mir angetan. Diese von der ARD produzierte deutsche Familien-Serie erinnert sicher kaum noch jemand. Sie lief erstmals am 13. Mai 1977 im Nachmittagsprogramm der ARD und danach bis 1983. Ich wohnte damals zwar nicht in München und auch nicht in der Nummer 30. Aber um mich herum passierten Dinge, da hätte ich gut drei Folgen schreiben können. Heute weiß ich allerdings nicht mehr, ob das, was ich jetzt schildere, in der Serie passiert ist oder mir.

Der Originalschauplatz in München

Für alle, die jung sind, um „Das feuerrote Spielmobil“ und die dazu gehörende Abenteuer-Serie zu kennen, und für alle, die schon alt genug sind, um sie längst vergessen zu haben: Der Originalschauplatz der TV-Serie war wohl ein Münchner Mietshaus der 1970er Jahre in der Oberföhringer Straße die Nummer 30. Die Hausgemeinschaft: das Rentnerehepaar Erich und Elisabeth Griesbeck, Josef Schwarz, genannt Josch, Junggeselle, Taxifahrer und Freizeit-Theaterspieler, sowie Frau Barth mit ihrer kleinen Tochter Nicki. In der ersten Folge zieht das Ehepaares Koch mit seinen beiden Kindern Claudia und Thomas ein und komplettiert die Hausgemeinschaft.

Mein „Haus mit der Nummer 30“ stellte ich mir vor als eine Reihenhaushälfte in einem nach dem WK II entstandenen Wohnquartier für Flüchtlinge am Rande einer oberschwäbischen Mittelstadt. Die ständigen Bewohner dieses ehrenwerten Hauses, auch in meiner Version: die vierköpfige Familie. Sie heißt allerdings Benjamini. Alle anderen Mietparteien wechselten von Serienfolge zu Serienfolge. Und das machte eben den Reiz für mich aus – ich konnte immer wieder neue Figuren erfinden. Oder habe ich nach Ablauf so vieler Jahre doch das eine oder andere aus den TV-stories nur geklaut und bilde mir inzwischen nur ein, es seien alles auf meinem Mist gewachsene abenteuerlich-abstruse Geschichten?

Herbst 1978. Es läutet abends so um 22:45 Uhr die Hausklingel. Roberto Benjamini geht überrascht zur Tür und öffnet. Polizei. Zwei Beamte: „Tschuldigung. Wohnt hier im Haus auch ein Jochen Baiz? Es gibt keine Klingel unter dem Namen. Deswegen haben wir bei Ihnen geklingelt.“ Baiz wohnt zu der Zeit oben unterm Dach. Provisorische Behausung. Eine schmale, leiterähnliche, unbeleuchtete Treppe führt vom Obergeschoss, in dem Kalle Kohler wohnt, unters Schrägdach hinauf. Der erste Teil unter dem praktisch unisolierten Dach ist Abstellfläche für alles Mögliche, weiter hinten, mit Brettern abgeteilt, ein Matratzenlager und zwei wackelige Stellagen. Sanitäre Anlagen: ein Lokus und ein Nichts von einem Waschbecken. Da haust Baiz.

Dachwohnung von Jochen Baiz

Ob er da ist? Roberto Benjamini zuckt die Schultern. „Kann sein. Ich achte nicht so drauf, wann wer im Haus ist. Oder kommt. Oder geht.“ Und dann verrät er den beiden Uniformierten: „Ich verstehe nicht, weshalb das da oben vermietet wird. Schauen Sie sich’s ruhig mal selbst an. Aber erschrecken Sie nicht. Vor allem fallen Sie nicht über das Gerümpel gleich beim Hochkommen. Sie haben doch ne Taschenlampe dabei? Könnte sein, dass Sie den Lichtschalter nicht finden. Und wenn doch, könnte es sein, dass die Lampe nicht brennt.“

Benjamini geht in seine Wohnung. Die Polizisten gehen nach oben. Nach einiger Zeit ist dann einiges Gerummel im Treppenhaus zu hören. Dann sieht Benjamini zusammen mit seiner Frau den Abgang eines Trios. Die beiden Polizisten wackeln mit Baiz, der offensichtlich an den Händen gefesselt ist, den Vorgartenweg entlang zur Straße. Am nächsten Tag klingelt der lokale Polizeiposten an, man will nochmal in die Dachbude, durchsuchen. Verdacht auf verbotene Rauschmittel. Sie kamen auch kurz nach Mittag, der Trupp verhielt sich ziemlich unauffällig. Zwei Stunden, dann zogen sie wieder ab.

Hauseingangs-Tür und die Parterre-Wohnung der Benjaminis

Der Baiz tauchte wohl am späten Abend wieder auf. Gemerkt haben Benjaminis erst, dass er wieder da war, weil sein Radio die gesamte Nachbarschaft aufweckte. Ab sechs Uhr morgens. Benjamini wusste nicht sofort, wo die Musik herkam, aber Punk hörte sonst kaum jemand in den Nachbarhäusern. Also zog er sich an und stieg nach oben. Der Baiz lag auf seiner Matratze und – schlief. Es stellte sich dann heraus, dass er sich tatsächlich hatte vom Radio wecken lassen wollen, aber einfach trotz des Höllenlärms nicht wach geworden war. Er behauptete, er habe geträumt, er sei in seinem Stammclub, einer versifften Punker-Baracke, im „Beteigeuze“, am Stadtrand.

Wegen Baiz durften die Benjaminis noch zwei Mal der Polizei die Tür öffnen. Das erste Mal war es ein paar Wochen später. Da hatte der reichlich verschluderte End-Twen mit ein paar Kumpels mit Wasserschläuchen Sprit aus diversen geparkten Pkw abgesaugt. Für ihre Mopeds. Wie sie aufgeflogen waren, haben die Benjaminis nicht erfahren. Aber sie wurden befragt, ob ihnen so was aufgefallen sei, ob sie auch betroffen seien und was da so alles gefragt wird. Die dritte Begegnung mit der Exekutive kam dann ein paar Jahre später, hatte aber nur indirekt mit Baiz, aber viel mit seiner „Wohnung“ zu tun. Davon später.

Schmidtchen Schleichers Wohnung mit Terrasse.

Die Wohnung im ersten Obergeschoss hat der ständig abwesende Vertriebsingenieur Rolf Schmidt, genannt Schmidtchen Schleicher, gemietet. Wenn er zu Hause ist, ist bei ihm Halligalli. Schmidt ist aber selten zu Hause. Meist nutzt dann aber der Hauptkumpel aus der gemeinsamen Stammkneipe die Wohnung. Der hat nicht genügend Knete für Feten. Zur Wohnung (hinter den beiden Gauben im Schrägdach) gehört auch eine Terrasse über dem Schlafzimmer der Benjaminis. Die wird bei den Parties heftig mitgenutzt. Da man sich aber ansonsten toleriert, gibt’s wenig Reibung. Einmal war es allerdings zwei Nächte sehr unruhig, weil Schmidt zusammen mit seinem ungarischen Hirtenhund pausenlos auf der Terrasse Rundlauf machte; das sollte den Hund retten. Es half nichts. Er hatte irgendwo Rattengift gefressen. Vielleicht in einer präparierten Wurst. Der Hund wurde im Vorgarten links hinten begraben, wo er bald vergessen wurde. Er kam dann wieder zum Vorschein, als die Gasleitung ins Haus gelegt wurde. Schmidtchen Schleicher zog irgendwann aus und endete zwei Jahre nach dem Auszug sehr unschön. Aber das wäre eine eigene Geschichte.

Hinterlasse einen Kommentar